
Abseits des Rampenlichts
Während sie auf uns zukommt, sieht sie aus wie jede andere ältere Frau auf dem Heimweg vom Markt: Mantel, hübsches Seidentuch um den Hals, Korb unter dem Arm. Nichts deutet auf ihre Geschichte hin und auf den Ort, den sie ihr Zuhause nennt – das Obdachlosenheim.
Vera* hat einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, einen guten Job und ein geordnetes Leben. Dann wird sie krank, Magenbeschwerden zwingen sie ins Spital. Kaum der Rede wert könnte man meinen. Doch was für uns nichts weiter als ein Zwischentief wäre, stellt ihr ganzes Leben auf den Kopf. Durch die längere Arbeitsunfähigkeit verliert Vera ihre Stelle, danach die Wohnung. Nach dem Fall durch alle Maschen des Systems schlägt sie, wie viele ihrer Schicksalsgenossen, auf den harten, kalten Strassen von Gorna Oryahovitsa in Bulgarien auf. Sie sucht Zuflucht in dem von AVC finanzierten Obdachlosenheim «Zentrum Veränderung». Das war vor sechs Jahren.
Rositsas* Lebensumstände hingegen sind von Anfang an widrig. Nach der Geburt von der Mutter ausgesetzt, wächst sie in verschiedenen Waisenhäusern und Internaten auf. Die junge Frau meistert ihr Leben weitgehend allein. Sie kennt keine Verwandten, die ihr helfen könnten. Nach unzähligen Wohnort- und Stellenwechseln im ganzen Land findet sie in Gorna Oryahovitsa Arbeit in der Stadtbildpflege, inklusive Dienstwohnung. Diese fällt jedoch kurz darauf einer administrativen Reorganisation zum Opfer. Für die Stadt eine beiläufige Entscheidung, für Rositsa das Urteil zu einem Leben auf der Strasse.
Einsätze und Extrameilen
Mein Besuch im Heim ist bewegend. Nicht nur wegen der tragischen Lebensgeschichten der Bewohner, sondern auch angesichts des unermüdlichen Einsatzes der Mitarbeitenden. Diese bewältigen Behördengänge, Arztbesuche und Alkoholentzüge inklusive Rückfälle, begleiten Notfallaufnahmen, lösen Konflikte und vollziehen behördliche Auflagen. Sie setzen oft monatelang alles daran, für ihre Schützlinge Anschlusslösungen zu organisieren. An einem freien Tag fahren Co-Leiterin Pavlina und ihre ganze Familie vier Stunden hin zum Käufer eines Soundpanels, das in der heimeigenen Werkstatt hergestellt wurde. Der Erlös der Produkte fliesst ins Zentrum und die Bewohner verdienen etwas Taschengeld.
Mehr Menschlichkeit, weniger Bürokratie
Die unbürokratische Flexibilität des Zentrums hat sich herumgesprochen. Das eigens eingerichtete Notfallzimmer ist oft belegt und dient als Notschlafstelle, Ausnüchterungszelle oder zur medizinischen Erstversorgung. Die städtischen Rettungsdienste halten regelmässig vor den Toren des Zentrums. Sie sind froh, dass die Betrunkenen und Versehrten hier Aufnahme finden – Menschen, die mangels Ausweispapieren von den offiziellen Krisenzentren abgelehnt werden. »Wir finden es wichtiger, sie an einem warmen Ort unterzubringen und zu ernähren, als sie wegen irgendwelchen Auflagen hungrig und frierend unter der Brücke stehenzulassen«, sagt Pavlina.
Stille Helden
Während unseres Besuchs in Bulgarien findet in der Schweiz das Weltwirtschaftsforum statt. Bedeutende Männer und Frauen der Weltpolitik versammeln sich unter grosser Beachtung der Weltöffentlichkeit. Der Kontrast zu den Leuten hier im Zentrum, die aus Sicht der Behörden teils nicht einmal existieren, ist krass. Die Hingabe der Mitarbeitenden für diese Menschen am Rand der Gesellschaft ist tief beeindruckend. Diese stillen Helden verändern Leben und schreiben ebenfalls Geschichte – abseits des Rampenlichts, aber aus der tiefen Überzeugung, dass vor Gott alle Menschen gleichermassen bedeutsam und geliebt sind.
Der lange Weg zurück
Wohnen und Essen sind im Zentrum kostenlos. Rositsa hat sich jedoch inzwischen im Obergeschoss des Zentrums eingerichtet. Hier können Einzelzimmer mit Gemeinschaftsküche gemietet werden, eine Vorstufe zum externen Wohnen. Rositsa bezahlt eine symbolische Miete und bestreitet ihren Alltag selbstständig. Sie will zurück in die Unabhängigkeit.
Ein Happy End gibt es aber nicht immer. Pavlina erzählt von denen, die nach langwieriger Vermittlung in eine Pflegeeinrichtung kommen, nach kurzer Zeit dort abhauen und wieder bei ihnen vor der Tür stehen. Von Suchtkranken, die nach monatelanger Abstinenz das Zentrum verlassen, den kostenlosen Aufenthalt in einer Entzugsklinik ausschlagen und bei null beginnen. Von solchen, die sich einfach nicht helfen lassen wollen. »Ja, vieles könnte uns entmutigen, aber wir geben nicht auf«, sagt sie mit Nachdruck. Rund 25 % der Gäste im Zentrum finden den Weg in die Selbständigkeit, 55 % werden pflege- oder altersbedingt in ein Heim vermittelt. Die Übrigen verlassen das Zentrum, oft um festzustellen, dass sie weiterhin Hilfe benötigen.
Auf der Heimreise kommen wir am lokalen Bahnhofskiosk vorbei. Hier hat Vera eine Anstellung erhalten und verbringt unzählige Nachtschichten im rauen Umfeld, auf dem Weg zurück in ein Leben, wie sie es kannte.
* Name geändert

