Näher als man denkt
Wir fahren zum St.-Samuel-Kloster in der Wüste südlich von Kairo. Die Strasse dorthin wird seit den Anschlägen auf eine Gruppe koptischer Pilger von der Polizei bewacht. Am 28. April 2017 griff eine Gruppe von IS-Dschihadisten aus Libyen den Konvoi einiger Christen an. Die Islamisten wollten die Kopten zwingen, ihrem Glauben abzuschwören. Als niemand dazu bereit war, töteten sie 28 Menschen, darunter mehrere Kinder.
Die Polizei lässt uns ohne weitere Fragen passieren. Am Ort des Geschehens erblicken wir Kreuze, am Strassenrand im Halbkreis in den Sand gesteckt. Hier liegen einige der Opfer begraben. In mir steigen Gefühle auf, die ich nur schwer kontrollieren und noch weniger in Worte fassen kann. Etwas von dem, was hier geschah, ist spürbar.
Wir erreichen das Kloster, und der Fahrer bringt uns zu einer kleinen Kapelle, die erst vor kurzem gebaut wurde. Rasch erahnen wir deren Zweck: Sie erinnert an die Tragödie des Anschlags vom 28. April, aber auch an die Treue der Pilger. Die Fotos der Opfer mit Namen und Alter sind an der Tür, an den Wänden und im hinteren Teil der Kapelle aufgehängt.
Wie ich die Kapelle betrete, werde ich völlig von Emotionen überwältigt. Tränen rinnen mir übers Gesicht, und ich muss mich etwas absondern. Aber was ist hier los? Ich bin kein Kopte und auch kein Ägypter, und keine dieser Personen war mir persönlich bekannt. Dennoch fühle ich mich ihnen, jenseits von Konfessionen, Kultur, Sprache und Nationalität, unglaublich nahe. Es sind Schwestern und Brüder, die, bedroht von Waffen, standhaft geblieben sind und dies mit ihrem Leben bezahlt haben.
Im Angesicht des Todes verschwinden unsere Unterschiede. Nur das Wesentliche bleibt bestehen: »Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater von uns allen, der über alle regiert, durch alle wirkt und in allen lebt« (Epheser 4,5-6).